Leonhard Zintl:
Rückblick auf 2020 und insbesondere auf die Tode von Max und Michael Zintl
31.12.2019
Wir haben Gäste. Eine befreundete Familie besucht uns wie in den vergangenen Jahren; wie feiern gemeinsam Silvester – den Jahresabschluss und den Auftakt des neuen Jahres. Unsere Gäste sind bereits am Vorabend angereist, und wir frühstücken gemeinsam, sprechen über die vergangenen Monate, darüber, was uns bewegt. Wir lachen viel.
Mein Freund, Lukas – unser ältester Sohn – und ich machen uns auf den Weg zu einem Handwerker. Wir haben die Fertigstellung eines Tiny Houses als Seminarhaus beauftragt und wollen uns den aktuellen Baustand anschauen. Nach diesem Besuch beim Handwerker fahren wir auf den Bauernhof meiner Familie. Ich selbst bin auf dem Bauernhof aufgewachsen – einem landwirtschaftlichen Familienbetrieb –, und ich schätze dies sehr. Das Leben mit der Natur gibt Erdung, Demut und einen ehrlichen Bezug zu Leben und zur Natur.
Meine Eltern und mein Onkel, der immer auf dem Hof war und meinen Bruder und meine Mutter mit unterstützt hat auf diesem landwirtschaftlichen Betrieb, leben dort – mein Vater Max und sein Bruder Michael seit ihrer Geburt im Jahre 1936 und 1938. Sie haben viel erlebt und auch viel bewegt.
Ein sicherlich besonderer prägender Einschnitt war der Tod ihres Vaters – meines Großvaters – am 28. März 1948 mit nur 44 Jahren. Er war an einer Lungenentzündung schwer erkrankt, wurde ins Krankenhaus nach Tirschenreuth gebracht; und so wie uns erzählt wird, waren damals die medizinischen Möglichkeiten bei einer schweren Lungenentzündung nicht so fortgeschritten und wirkungsvoll, sodass er bereits in diesem jungen Alter mitten aus dem Leben gerissen wurde. Mein Vater war damals gerade mal 12 Jahre, sein Bruder Michael erst 10 Jahre und der jüngste Bruder Leonhard 4 Jahre alt. Meine Oma hatte also nun drei kleine Kinder allein zu versorgen, der Ehemann verstorben, eine große Landwirtschaft nach dem Krieg, und ebenso war gerade 1948 auch noch die Währungsreform. Nach Erzählungen hat die Familie für einen damals im Bau befindlichen Stadel vom Kopfgeld pro Person Ziegel gekauft, damit es weitergehen kann.
Wir dürfen an diesem 31. einen kurzen Besuch auf dem Hof machen. Wir hatten noch überlegt, ob wir einen Weißwurst-Frühschoppen machen; aber um meiner Mutter nicht noch mehr Arbeit zu machen, haben wir dann doch davon abgesehen und sind nur auf eine Tasse Kaffee vorbeigekommen. Meine Mutter, mein Vater und mein Onkel freuen sich immer über unseren Besuch – so auch heute; und wir tauschen uns über das alte Jahr aus und darüber, was heute und im neuen Jahr so ansteht … wie immer sehr herzlich und freundlich.
Meine Eltern und mein Onkel leben auf dem Bauernhof, den mittlerweile mein Bruder übernommen und gemeinsam mit seiner Frau weiterentwickelt hat – ein richtiger Mehrgenerationenhaushalt meiner Eltern, meines Bruders und meiner Schwägerin und der gemeinsamen drei Kinder. Sie leben harmonisch auf dem Dorf mit nur einhundert Einwohnern, ländlich geprägt auf einem Hof mit Abstand zum nächsten Gehöft und Nachbarn von vielleicht vierzig oder fünfzig Metern und ganz auf eine ländliche Dorfstruktur geprägt, wie man sie in Bayern vielerorts vorfindet. Das Mitarbeiten auf dem eigenen landwirtschaftlichen Hof hält meine Eltern und meinen Onkel fit und jung. Sie sind täglich mit eingebunden und stehen früh auf und erledigen im Laufe des Tages notwendige und unterstützende Arbeiten und entlasten somit meinen Bruder wie Arbeitskräfte. Alle sind gesund und ohne größere Vorerkrankungen, und sie sind für ihr Alter körperlich und geistig recht fit.
Wir starten in das Jahr 2020, und das Jahr beginnt wie gewohnt im Januar mit den Aktivitäten und dem schon fast alltäglichen Lauf.
März 2020
Zu Weihnachten schenken uns unsere Eltern seit vielen Jahren einen Gutschein – einen Gutschein an meine Geschwister und mich (wir sind vier Geschwister) und jeweils an unsere Kinder für ein großes gemeinsames Familienessen. Nachdem ein erster Versuch, einen gemeinsamen Termin zu finden, im Januar noch nicht erfolgreich war, hatten wir uns nunmehr den 15. März 2020 vorgemerkt. Und alle freuen sich auf dieses Zusammentreffen.
Noch nicht richtig einordnend nehmen wir wahr, dass sich ein gefährliches Virus – das Corona-Virus – in Deutschland verbreitet. Niemand kann es zu diesem Zeitpunkt wohl so richtig greifen und begreifen.
8. März 2020
In Mitterteich findet das alljährliche Starkbierfest statt. Keiner aus unserer Familie ist dort und nimmt an den Feierlichkeiten teil. Später wird heftig darüber diskutiert werden, ob dieses Starkbierfest in irgendeiner Form ein Beschleuniger für die Ausbreitung des Corona-Virus gewesen ist.
15. März 2020
Heute ist unser Familienessen geplant. Wegen der unsicheren Corona-Situation fangen wir alle an, uns Gedanken zu machen, ob ein Treffen und das gemeinsame Familienessen in einer Gaststätte und auf engem Raum wirklich verantwortbar wäre. Gemeinsam beschließen wir, vorsichtig zu sein und sagen den geplanten Termin ab.
Benedikt – unser jüngster Sohn – ist sich nicht sicher, ob eine für heute geplante Theaterprobe noch stattfindet. Benedikt und ich beschließen, uns auf den Weg zu machen nach Vohenstrauß – ca. 40 Minuten entfernt. Wir wissen nicht, ob dieser Weg umsonst sein wird und die Theaterprobe aus Vorsicht bereits abgesagt ist. Wir treffen pünktlich ein, und es stellt sich nun doch heraus, dass die Theaterprobe vorsichtshalber abgesagt worden ist. Auf dem Rückweg machen wir einen Bogen und besuchen meine Eltern auf dem Hof; wie sich noch herausstellen wird das letzte Mal, dass ich meinen Vater und meinen Onkel bei bester Gesundheit daheim auf dem Hof treffen werde.
In Mitterteich wird als einer der ersten Orte in Bayern eine Ausgangssperre verhängt. Ursache ist das Corona-Virus, das sich stark verbreitet und so in Mitterteich ein so genannter Hot Spot entstanden ist. Heftig wird diskutiert, ob es das Starkbierfest war, dass nochmals zur ungehinderten Verbreitung oder Beschleunigung der Ausbreitung des Virus beigetragen haben könnte. Ebenso wird vermutet, dass einige Einwohner von Mitterteich das Virus aus Ischgl mitgebracht haben könnten.
Der elterliche Hof liegt in der Nachbargemeinde von Mitterteich, und durch den Lockdown in Mitterteich ist auch das Leben um Mitterteich herum und somit auch das in der Gemeinde Leonberg weitestgehend heruntergefahren.
26. März 2020
Ich habe einen Termin beim Kieferorthopäden. Auf meine Nachfrage kann dieser stattfinden. Also fahre ich nach Weiden. Wir fragen nochmals nach, doch leider ist es derzeit nicht gestattet, jemanden im Krankenhaus und auf der Intensivstation zu besuchen. Seit vier Tagen liegt mein Onkel Michael auf der Intensivstation im Klinikum Weiden – ein Besuch wäre ideal zu verbinden. Doch diese Möglichkeit bleibt uns verwehrt.
Zum Termin beim Kieferorthopäden habe ich mein Handy bei mir und nicht – wie sonst üblich – ausgeschaltet. Und während der Behandlung klingelt mein Handy. Den ersten Anruf nehme ich nicht an, drücke den Anrufer weg. Kurz danach ein weiterer Anruf, und ich bitte um eine kurze Unterbrechung der Behandlung. Am Telefon ist mein Bruder; er weint und sagt mir, dass unser Onkel Michael es nicht geschafft hat – er ist heute Vormittag verstorben.
Mir bleibt nur, die Behandlung abzubrechen und auf einen nächsten Termin zu verlegen. Ich verlasse die Praxis – und weine. Ich bin traurig über den plötzlichen Tod unseres Onkels Michael, sein Gehen für immer. In diesem Moment noch nicht ahnend, dass er am Corona-Virus verstorben ist.
Ich telefoniere mit meinem Bruder, und wir verarbeiten den Tod unseres Onkels in einem intensiven Gespräch. Gleichzeitig eröffnet mir mein Bruder, dass es unserem Vater, unserem Papa nicht gut geht. Wir vereinbaren, dass es jetzt gut und sinnvoll ist, auch um ihn medizinisch besser versorgen zu können, schnellstmöglich den Notarzt zu rufen und auch unseren Papa in ein Krankenhaus bringen zu lassen. Mein Bruder meldet sich keine 15 Minuten später wieder und meint, alle Versuche, einen Notarzt zu erreichen, seien gescheitert, niemand nimmt die Anrufe an. Ich biete an, mich ebenso zu kümmern und zu helfen.
Ich betrete wieder die Praxis, und der Arzt ist ebenso betroffen über die Nachricht vom Tod meines Onkels und bietet mir Hilfe an. Ich berichte ihm von der außergewöhnlichen Situation in unserer Familie und dass wir keinen Notarzt für meinen Vater erreichen können. Umgehend wählt er den Notruf 110 und erreicht tatsächlich jemanden und gibt mir freudestrahlend den Hörer in die Hand. Ich schildere dem Gegenüber unsere Situation zu Hause und bitte eindringlich um einen Notarzt für meinen Vater. Der Polizist verweist auf die entsprechende Notfallnummer und erklärt mir, dass er nicht zuständig sei. Ich nehme erneut Anlauf und versuche zu erklären, dass es sich nicht um einen Notfall in dieser Minute handelt, wir aber den Wunsch haben, meinen Vater im Laufe des Tages mit einem Krankentransport zur Behandlung in das Klinikum bringen zu lassen. Ich bitte darum, dass veranlasst wird, dass aus dem Klinikum jemand zu unserer Familie Kontakt aufnimmt, um dies zu organisieren. Gleichzeitig äußere ich die Bitte, doch weitere Unterstützung zu aktivieren für die Notversorgung, die offenbar überlastet ist. Der Polizist erklärt mir unmissverständlich und sehr bestimmt, dass er nicht zuständig sei; ich solle mich an die hierfür zuständigen Stellen wenden. Ich wiederhole mein Anliegen und bringe zum Ausdruck, wie hilflos ich mir vorkomme, wie er mich in dieser Form abweist. Aber auch diese Aussage bewegt nichts. Ich werde eindringlich aufgefordert, das Gespräch zu beenden und die Leitung nicht weiter zu blockieren. Er sei nicht zuständig und könne mich auch nicht verstehen.
Erschrocken von Inhalt und Ton des Gesprächs gebe ich an dieser Stelle auf. Selbst der neben mir stehende Arzt der Kieferorthopädie ist fassungslos über diese Situation und dieses Verhalten.
Ich nehme wieder Kontakt mit meinem Bruder auf, der inzwischen mit seiner Frau organisiert hat, dass unser Vater einem Arzt vorgestellt wird – ein Freund meiner Schwägerin, zufällig auch der Hausarzt der Familie. Meine Schwägerin und meine Mutter fahren mit unserem Vater zum Arzt. Dieser untersucht ihn und empfiehlt dringend die Einweisung in ein Krankenhaus, er vermutet Probleme mit dem Herzen. Mein Vater wird ins Krankenhaus gebracht. Die unmögliche Situation mit dem Notarzt erweist sich zu diesem Zeitpunkt als hilfreich, denn mein Vater wird unmittelbar auf die Station gebracht und muss nicht – wie viele andere – in der Notaufnahme warten. Ich hatte mich kundig gemacht – abends um 18 Uhr warteten noch Patienten, die am Morgen die Notaufnahme aufgesucht hatten.
Wieder zu Hause bekommt meine Mutter gegen 18 Uhr einen Anruf und die Information, dass mein Vater zu einem Corona-Patienten ins Zimmer verlegt werden soll – es gäbe schlichtweg keine freien Zimmer, und es fehle an Alternativen. Wir telefonieren in der Familie. Wir sind erschrocken. Ich nehme Kontakt auf zu einem Aufsichtsrat der Klinik AG. Auch er ist erschrocken und findet das Angebot, einen Erkrankten in das Zimmer eines Corona-Patienten aufzunehmen, unannehmbar und will sich darum kümmern. Schon zehn Minuten nach diesem Telefonat ruft er mich zurück und teilt mir mit, dass es tatsächlich keine andere Option gibt, als in das Zimmer mit einem Corona-Patienten verlegt zu werden. Die Situation sei alternativlos.
Darüber hinaus haben ihn die Ärzte darüber informiert, dass man sich bei einem Corona-Patienten, der intubiert wird, nicht anstecken könne. Beruhigend ist das nicht, aber wir akzeptieren die Situation.
Mein Vater führt ein Aufnahmegespräch mit den Ärzten. Währenddessen führe ich mein erstes Gespräch mit der Station – bei meinem Onkel hatte meine Schwägerin die Kommunikation mit dem Krankenhaus übernommen; in der Familie haben wir uns darüber abgestimmt, dass bei meinem Vater ich als Kontaktperson fungieren werde. Die Krankenschwester auf der Station macht mir und uns Hoffnung und sagt: „Bei Patienten, die selbst noch das Aufnahmegespräch führen können, brauchen Sie sich nicht so große Sorgen zu machen.“
Ergebnis dieses dramatischen Tages ist, dass mein Vater intubiert und beatmet wird, zu seinem eigenen Schutz in ein künstliches Koma gelegt wird. Uns wird mitgeteilt, dass die Lage ernst ist. Wie ernst, das sei momentan schwer einzuschätzen. Aber es gibt immer Hoffnung.
27. März 2020
Ich telefoniere an diesem Tag mehrmals mit dem Krankenhaus. Es ist deutlich zu spüren, wie beschäftigt das Personal auf der Station und wie angespannt die Situation ist. Ich bin froh, dass die Menschen auf der Station sich um meinen Vater kümmern, und bringe meine Wertschätzung auch in den Telefonaten zum Ausdruck. Nach Rückmeldung der behandelnden Ärzte ist mein Vater erschöpft, auch er wird in Bauchlage gelagert und wird weiter beatmet – die Lage ist allgemein stabil. Man hofft, dass die Nieren gut weiterarbeiten. Es wird ein Abstrich gemacht, um zu prüfen, ob er sich mit dem Corona-Virus angesteckt hat.
Am Abend dieses Tages informiert mich die Ärztin, dass das Ergebnis des Corona-Tests vorliegt; der Test ist positiv ausgefallen – mein Vater ist am Corona-Virus erkrankt. Ich frage nach, ob auch mein Onkel mit dem Corona-Virus infiziert gewesen ist. Die Ärztin bittet mich um persönliche Angaben zu meinem Onkel; die Überprüfung der Ärztin der Krankenakte meines Onkels bestätigt, dass auch er positiv auf das Corona-Virus getestet worden war. In der Hektik des gestrigen Tages war darüber in unserer Familie nicht mehr gesprochen worden. Diese Information war bereits an meine Familie übermittelt worden, ich habe von der Corona-Infektion meines verstorbenen Onkels zu diesem Zeitpunkt nichts gewusst.
Mein Vater wird gut versorgt. Alle hoffen, dass sich die Situation stabilisiert, sich seine Lunge erholt.
28. März 2020
Am Gesundheitszustand meines Vaters hat sich nichts verändert – er wird weiterhin beatmet. Es ist zu früh, eine Prognose abzugeben, wie es „ausgehen“ wird. Die Lage ist weitestgehend stabil. Wichtig ist jetzt, dass sich die Lunge erholen kann.
Ich telefoniere nochmals, und es wird geklärt, ob eine Vorsorgevollmacht vorliegt. Wir übermitteln die Unterlagen dem Krankenhaus. Alles Notwendige wird getan.
Gegen 19:50 Uhr telefoniere ich ein weiteres Mal mit dem Krankenhaus. Alle sind beschäftigt, und ich werde gebeten, in einer halben Stunde wieder anzurufen. Auch zu diesem Zeitpunkt herrscht eine große Hektik auf der Station. Ich werde wieder auf einen späteren Zeitpunkt vertröstet. In diesem nächsten Telefonat informiert mich der Arzt, dass mein Vater weiter hohes Fieber hat – eine Temperatur über 40°; er wird gekühlt. Wichtig ist jetzt, dass die Nieren arbeiten und die Organe nicht versagen. Die Beatmung entlastet die Lunge, die Bauchlagerung sorgt für eine bessere Sauerstoffversorgung. Ich habe das Gefühl, dass er eine gute medizinische Versorgung im Rahmen aller Möglichkeiten erfährt.
29. März 2020
Ich telefoniere mit dem diensthabenden Oberarzt. Er erklärt mir, wie ernst die Lage ist. Sie ist sehr ernst.
Die Nierenfunktion ist stark eingeschränkt, es droht ein Nierenversagen. Es käme einem Wunder gleich, wenn sich unter diesen Voraussetzungen der Gesundheitszustand meines Vaters stabilisieren und verbessern würde. Nach Meinung des Oberarztes sei es fast unmöglich, dass sich mein Vater aus diesem sehr kritischen Zustand wieder erholen kann. Er sagt mir wörtlich: „Es wird ein sehr enges Rennen.“ Nach Einschätzung der momentanen Situation wird es mein Vater maximal drei bis vier Tage schaffen. Es bleibt ein winziger Funken Hoffnung darauf, dass er sich wieder erholt.
Gleichzeitig sagt mir der Arzt, dass es unheimlich wichtig wäre, den Patienten das Leben zu retten. Es wäre wichtig für die Motivation aller auf seiner Station, die tagtäglich bei der Vielzahl von Patienten um jedes Leben kämpfen und Erfolgserlebnisse brauchen. Wir könnten versichert sein, es werde alles Mögliche getan.
Er sagt mir aber auch, dass mein Vater keine Schmerzen habe, dass ein Tod einem Wegschlafen gleichkomme. Der Oberarzt bietet mir an, dass in dieser besonderen und außergewöhnlichen Situation ein Familienmitglied meinen Vater auf der Intensivstation besuchen darf. Ich frage nach, ob es auch meine Mutter – die 82-jährige Ehefrau – sein kann, die noch einmal zu ihm darf. Das wäre möglich, aber er betont, dass nicht er diese Entscheidung treffe, sondern einzig unsere Familie. Wir müssten abwägen, wer von uns diese Möglichkeit nutzen möchte.
Ich telefoniere mit meiner Familie. Mein Bruder ist von der Vorstellung eines Besuches entsetzt und weist darauf hin, dass bereits ein Familienmitglied verstorben ist und ein weiteres um sein Leben kämpft. Wir könnten uns der Gefahr einer Ansteckung nicht aussetzen. Dieses Virus sei zu gefährlich. Auch meine Schwester möchte dieses Angebot nicht annehmen. Sie möchte meinen Vater in Erinnerung behalten – rüstig und lebensfroh wie sie ihn kennt.
Ich hadere mit mir. Würde ich meine Mutter über die Möglichkeit eines letzten Besuches informieren? Oder sollte ich dies besser verschweigen? Nach kurzen und intensiven Überlegungen rufe ich sie an, um ihr die Möglichkeit zu einem Besuch mitzuteilen, hoffe aber insgeheim, dass sie dies nicht tun wird. Ich berichte ihr vom Ernst der Lage und der Möglichkeit, dass ein Familienmitglied noch einmal zu unserem Vater ins Krankenhaus darf. Sie ist ergriffen von der Situation, ihr Atem stockt, und ihre Stimme zittert. Nach kurzer Pause fragt sie mich, ob sie dort etwas tun könnte und wie dieser Besuch ablaufen würde. Ich bin über ihre Nachfrage doch erleichtert, antworte ihr, dass sie nichts tun könne und dass ich sie doch bitte, nicht hinzugehen, weil auch sie zu den Risikopatienten gehört. Wir haben unseren Onkel Michael verloren, unser Vater kämpft um sein Leben – wir möchten nicht, dass sie sich gefährdet. Sie seufzt und nimmt meinen Ratschlag schließlich an. Ich müsse für mich entscheiden, ob ich diese Möglichkeit nutzen möchte. Sie würde jede Entscheidung akzeptieren und für richtig halten.
Wir besprechen, dass ich im Krankenhaus Bescheid gebe, dass unser Vater von einem Priester besucht wird, um ihm die letzte Ölung zu geben.
Ich beratschlage mich nochmals mit meiner Familie und der Möglichkeit eines Besuches im Krankenhaus. Alle sind nachdenklich, und meine Frau ist sehr ängstlich, dass ich weiter über diese Option nachdenke. Wir beschließen, einen Spaziergang zur St. Ägidius Kapelle auf dem Schlossberg in Waldeck zu machen. Wir wollen unsere Gedanken sortieren. Wir beten gemeinsam.
Zurück zu Hause habe ich aus unseren Gedanken und Gesprächen und dem Gebet einen Entschluss gefasst. Bei einem gemeinsamen Kaffeetrinken verkünde ich meinen Entschluss – ich möchte ins Krankenhaus gehen. Meine Frau hat Angst und bringt mir dies auch zum Ausdruck. Gleichzeitig akzeptiert sie meinen Entschluss.
Ich rufe wieder im Krankenhaus an und werde mit dem Oberarzt verbunden. Er sagt, er müsse mir jetzt einige Dinge mitteilen, bevor ich auf die Intensivstation kommen könne. Ich kürze das Gespräch ab und erkläre, dass ich gesund bin, dass ich in vollem Besitz meiner Kräfte bin, dass ich bewusst und frei entschieden habe und ich mir des Risikos durchaus bewusst bin, auch wenn ich sicher nicht alle Einzelheiten kennen kann. Ich möchte trotzdem kommen. Der Arzt sagt mir, das würde ihm an dieser Stelle die Arbeit erleichtern. Er hat meinen ausdrücklichen Wunsch vernommen, auch dass mir das Risiko bewusst ist und ich mich freiwillig in diese Situation begebe. Er sei dankbar, dass ich ihm das so klar und deutlich artikuliert habe. Somit kann er wieder Patienten versorgen, die um ihr Leben kämpfen. Er verbindet mich mit einer Stationsschwester, die mir den weiteren Ablauf erklärt. Ich kündige an, in ca. 45 Minuten im Krankenhaus zu sein.
Mein ältester Sohn Lukas bietet an: „Papa, ich fahre dich. Wir wissen nicht, in welchen Gefühlszustand du auf dem Weg in die Klinik oder nach dem Besuch sein wirst. Ich möchte dich unterstützen.“ Lukas ist von sechs Wochen 18 Jahre geworden und kann daher mein Fahrer sein. Ich kläre für mich noch eine wichtige persönliche Angelegenheit, schreibe dies nieder; ganz in Gedanken und nicht wissend, was genau auf mich zukommen wird und was mich erwartet – für mich aber wichtig, dies noch zu erledigen und aufzuschreiben, dass und warum ich mich in diese außergewöhnliche Situation begebe.
Ich mache mich frisch. Wir starten und kommen nicht – wie vorangekündigt – nach 45 Minuten, sondern erst nach 90 Minuten am Klinikum an. Vor dem Eingang steht Security, die das Klinikum bewacht. Der Parkplatz ist fast leer, niemand darf unberechtigt das Klinikum betreten.
Eine unheimliche Situation – die Stadt … ein Land … im Lockdown, ein Klinikum an der Belastungs-grenze, ein leerer Parkplatz und Einlasskontrollen am Eingang. Ich muss mich ausweisen und erkläre, dass ich meinen Vater auf der Intensivstation besuchen darf. Die Sicherheitskräfte und das Empfangspersonal sind informiert, und ich werde auf die Station begleitet.
Dort angekommen werde ich freundlich begrüßt und meint, man hätte sich schon Sorgen gemacht, da ich meinen Besuch bereits früher angemeldet hätte. Die Stationsschwester meint, jeder auf der Station kennt mich. Auf meine Nachfrage nach dem Warum sagt sie mir, dass ich bei meinen Anrufen immer ruhig und freundlich sei, auch besorgt nach dem Personal nachfrage und allen immer Gesundheit wünsche. Niemand könne sich vorstellen, welche Anrufe die Schwestern entgegennehmen müssen, mit welcher Verzweiflung und Angst man konfrontiert werde, wenn die Menschen nicht zu ihren Angehörigen dürfen. Meine Telefonate seien immer wertschätzend und verständnisvoll in dieser besonderen Situation.
Ich werde nochmals über die Risiken aufgeklärt, werde eingekleidet in Klinikkittel und Handschuhe, mit Atemschutz und Schutzbrille – alles notwendig, um eine Infektion zu vermeiden und mich und meine Familie zu schützen.
Ich werde aufs Zimmer gebracht. Die Schwester ist freundlich und erklärt mir den Verlauf der letzten Tage. Sie erzählt mir, dass sie in den vielen Berufsjahren noch nie mit Patienten zu tun hatte, die so hohes Fieber über einen ungewöhnlich langen Zeitraum hatten, und das auch noch in diesem hohen Aufkommen – eine wirklich erschreckende und außergewöhnliche Situation.
Im Zimmer liegen mein Vater und ein weiterer Patient – beide werden beatmet. Ich bin einen Moment erschrocken, meinen Vater so zu sehen im Bett und gezeichnet von der Krankheit. Ich nehme seine Hand, streichle sein Gesicht und spreche mit ihm. Nach zwei Stunden meldet sich die Schwester vom Flur aus mit dem Telefon in der Hand – mein Sohn sei am Telefon. Wir hatten vereinbart, dass Lukas nach zwei Stunden anruft, weil wir nicht wussten, wie sich die Situation entwickeln würde. Ich rufe der Schwester zu, bei mir sei alles in Ordnung, die Schwester ruft mir zu, Lukas lässt ausrichten, dass ich mir alle Zeit nehmen soll, die ich brauche; er wartet. Später erzähle ich ihm, dass unser Vater – sein Großvater – unseren Dialog ganz bestimmt mitgehört hat.
Ich spreche mit meinem Vater eine weitere Stunde. Ich erzähle ihm, dass die gesamte Familie auf ihn wartet – ich zähle alle Namen auf. Alle wünschen sich, dass er wieder nach Hause kommt. Wir beten und hoffen, dass er wieder gesund wird. Ich habe das Gefühl, dass er meine Anwesenheit spürt und mich hören kann. Mit dem Wunsch, dass er bald wieder nach Hause kommt, habe ich den Eindruck, dass er eine Sorgenfalte oberhalb der Nase auf der Stirn hat, die mir sagen soll, dass das schwierig werden wird. Ich erzähle ihm von besonderen Momenten in unserer Familie, berichte ihm von seinen Kindern und den Enkelkindern und von seiner Ehefrau, die alle auf ihn warten. Dann beginne ich zu beten.
Die Stationsschwester komme immer mal zwischendurch und sieht nach dem Rechten. Sie berichtet, dass das Fieber gestern ein so genanntes „warmes Fieber“ war, heute ein „kaltes Fieber“. Sie zeigt und erklärt mir die Infusionen und wie eingeschränkt die Nieren arbeiten und wie wenig Flüssigkeit ausgeschieden wird.
Ich bete laut für und mit meinem Vater. Ich bin sicher, er spürt und hört das. Im Laufe des Tages war bereits ein Priester bei ihm. Ich bete und bete. Und erstaunlicherweise senkt sich das Fieber von 40,3° auf 39,3°. Sein Puls beruhigt sich, der bis dahin bei 150 bis 170 Schlägen lag, auf 120 Schläge. Ich bete eine Stunde.
Nach diesen vier Stunden auf der Intensivstation, davon die letzte Stunde im Gebet, verabschiede ich mich von meinem Vater mit der Bitte und der Hoffnung, dass er gesund wird und wieder nach Hause kommt; in diesem Moment noch nicht ahnend, dass dies mein letzter Besuch, mein letztes Gespräch mit meinem Vater, meine letzte Berührung für ihn gewesen sein sollte.
Mein Sohn Lukas wartet auf mich. Wir fahren nach Hause. Ich mache mich frisch, dusche und ziehe mich um. Die Kleidung, so hatte ich mit meiner Frau besprochen, entsorgen wir, um hier kein Risiko einer Ansteckung einzugehen. Mit meiner Frau und meinen Kindern spreche ich über den erlebten Tag.
Ich bin müde und erschöpft, aber trotzdem beruhigt und falle in einen ruhigen Schlaf.
30. März 2020
Um 5:00 Uhr morgens noch vor dem Weckerklingeln wache ich auf und kann nicht mehr einschlafen. Ich spüre eine innere Unruhe, stehe schließlich auf und mache mir einen Kaffee. Ich blättere die Tages-zeitung durch und lese die Ergebnisse einer am Tag zuvor stattgefundenen Stichwahl bei der Kommunalwahl in der Region und informiere mich über diese Ergebnisse. Einer Routine folgend, gehe ich in mein Büro, um zu arbeiten. Es ist gerade erst 6:00 Uhr.
Um 6:03 Uhr erhalte ich auf meinem Handy einen Anruf aus dem Klinikum. Ohne zu überlegen und ohne einen Gedanken daran, was der Grund für diesen frühen Anruf sein könnte, nehme ich den Anruf an. Es ist das Klinikum. Die Stationsschwester informiert mich, dass mein Vater kurz zuvor verstorben ist.
Ich halte inne und versuche zu verstehen, was genau in diesem Moment passiert ist. Ich wecke meine Frau und meine Kinder auf, und wir sprechen darüber, dass mein Vater, der Schwiegervater meiner Frau und der Großvater meiner Kinder verstorben ist. Ich informiere meine Mutter und meine Geschwister, dass unser Papa für immer eingeschlafen ist.
Es beginnt all das, was nach dem Tod eines Menschen zu tun ist.
Ich bekomme einen weiteren Anruf aus dem Klinikum, dass ich die persönlichen Sachen meines Vaters abholen darf. Mit meinen beiden Söhnen mache ich mich im Laufe des Tages auf den Weg nach Weiden, um im Krankenhaus seine Tasche abzuholen mit den wenigen Dingen, die irdisch übrig sind, wenn ein Mensch geht. Mit dabei ist eine kleine Figur – ein Schutzengel, den mir unser jüngster Sohn Benedikt mitgegeben hatte, als ich meinen Vater gestern besuchte. Benedikt sagte: „Nimm den Schutzengel bitte für den Opa mit. Er soll ihm helfen, damit er schnell wieder nach Hause kommt.“ Ich hatte den Schutzengel mit ins Klinikum genommen und neben das Bett meines Vaters gestellt. Mit Benedikt hatte ich bereits am Vortag darüber gesprochen, dass es für seinen Großvater schwer werden wird, wenn er wieder aus dem Krankenhaus kommt. Darauf hat Benedikt mir in seinem frischen Lebensmut gesagt: „Richte dem Opa bitte aus, er soll unbedingt nach Hause kommen. Falls er nicht nach Hause kommt, soll er uns einen schönen Platz aussuchen, wenn er vorausgeht.“ Dieser Dialog mit meinem Sohn und über den Schutzengel wird mir wieder bewusst, wenn ich jetzt die Sachen meines Vaters in den Händen halte – die wenigen Habseligkeiten und den Schutzengel.
31. März 2020
Mein Hausarzt ruft mich an. Er ist auch betroffen von der Situation und der dramatischen Entwicklung. Er hatte bei der Untersuchung meines Vaters noch keinen Verdacht auf eine Corona-Infektion, sondern die Vermutung, dass das Herz geschwächt ist. Er erkundigt sich nach dem Verlauf, auch um selbst dazuzulernen. Ich berichte ihm vom Montagmorgen, von meinem unruhigen Aufwachen und meinem Spüren der vermutlich letzten Minuten meines Vaters. Mein Hausarzt antwortet sinngemäß: „Ja, es gibt Dinge, die können wir medizinisch auch nicht erklären, was auch immer es ist.“
Für unsere Familie beginnt nun eine außergewöhnliche Zeit. Trotz des Todes zweier geliebter Menschen dürfen wir uns nicht treffen und telefonieren daher viel. Gerade mit meiner Mutter habe ich viel gesprochen. Ich sagte ihr: „Ihr habt viel erlebt, auch manche Dinge, die nicht einfach waren. Was hätten die beiden – der Onkel und der Papa – am nächsten Morgen gesagt? Vermutlich hätten sie gesagt: ‚Es geht immer weiter.‘“ Meine Mutter antwortete mir: „Ja, genau das hätten sie gesagt.“
3. April 2020
Ich schlage meinem Bruder vor, eine digitale Andacht vorzubereiten. Er fragt mich, wie ich mir das vorstelle, unsere Mutter hat kein Handy. Ich weise ihn darauf hin, dass alle unsere Kinder iPad und Handy haben und dass möglich ist, dass wir gemeinsam digital beten könnten. Ich spreche auch mit meiner Mutter, und sie findet meine Idee gut.
Am Nachmittag wird uns bewusst, dass heute der Geburtstag meiner Nichte ist. Wir wollen ihren Geburtstag nicht zum Trauertag machen und verlegen die Andacht auf den 6. April.
6. April 2020
Unsere digitale Trauer-Andacht – Lukas und Benedikt haben diese vorbereitet, sich ganz viel Mühe dabei geben und eine ganz tolle Andacht zusammengestellt. Digital beten, singen und trauern wir.
Mein Onkel Michael hatte als letzten Willen verfügt, dass er eingeäschert werden soll. Bei meinem Vater entscheiden dies meine Schwester und mein Bruder, dass auch er eingeäschert wird. Ich bin für diese Entscheidung dankbar. Ich habe gehört, dass Patienten, die am Corona-Virus verstorben sind, nach dem Tod „behandelt werden“, um die Ansteckungsgefahr einzudämmen. Mich beruhigt der Gedanke, dass er eingeäschert wird. Mich hätte ein Leben lang der Gedanke an die Behandlung nach seinem Tod beschäftigt. So ist dies für mich eine gute Entscheidung meiner Geschwister.
Eine Beerdigung ist zu diesem Zeitpunkt nur in einem kleinsten Kreis mit den engsten Angehörigen möglich. Wir entscheiden, dass wir diese Möglichkeit nicht nutzen werden. Im „kleinsten“ Kreis würden wir einen Teil der Familie ausschließen müssen, und das möchten wir alle nicht. Deshalb beschließen wir, mit der Beerdigung zu warten, bis es mit einem größeren Teilnehmerkreis, der uns wichtig ist, wieder möglich ist.
30. Mai 2020
Endlich können wir die Trauerfeier für meinen Onkel und meinen Vater und die Bestattung durchführen. Genehmigt ist die Teilnahme von 60 Personen, die alle namentlich angemeldet sein müssen. Es findet zuerst die Bestattung auf dem Friedhof und anschließend ein Trauergottesdienst statt.
1. Januar 2021
Das Jahr 2020 ist vorbei – ein außergewöhnliches und herausforderndes Jahr. Ein Jahr, das in dieser Intensität für niemanden vorhersehbar und vorstellbar war. Im Laufe des vergangenen Jahres gab es immer wieder Gespräche über das, was wir erleben mussten.
Im April besuchte mich eine Journalistin der WELT und schreibt einen Artikel über Corona im Landkreis Tirschenreuth und darüber, was wir erlebt haben.
Im November meldet sich der Bayerische Rundfunk bei meiner Familie, der Interesse zeigt an einer Reportage über das, was uns widerfahren ist, um auch sichtbar zu machen, wie gefährlich das Corona-Virus tatsächlich ist, um alle diejenigen zu warnen, die nur allzu leichtfertig mit diesem Thema umgehen. In einem Bericht im BRENNPUNKT und später im REPORT wird über das, was wir als Familie erlebt haben, berichtet.
Kurz nach der Ausstrahlung des Beitrages meldet sich die BILD-Zeitung, die auch über die Gefahren des Corona-Virus zu berichten, um weiter für dieses Thema zu sensibilisieren. In einem Wort- und Bild-Beitrag sowie in einem Videobeitrag wird über unsere Familie berichtet. In dem gedruckten Beitrag wird darauf hingewiesen, dass das letzte gemeinsame Bild meines Vaters und meines Onkels gemeinsam mit meiner Familie an meinem Geburtstag 2019 gewesen ist.
Zu meinem 50. Geburtstag hatte mir mein Onkel einen Baum geschenkt und an diesem Tag gepflanzt. Das Bild mit dem Baum als Geschenk, vielleicht auch als ein Symbol – dieses letzte gemeinsame Bild der ganzen Familie. Damit startete dieser Bericht...